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Snow2Rain Feldforschungsbericht aus Tasiilaq, Ostgrönland Teil III

Jetzt ist es an der Zeit, dass ich von unserem Spaziergang in den Schnee berichte. Dies war allerdings alles andere als ein Spaziergang, denn die meiste Zeit verbrachte ich mindestens knietief im Schnee. Ich wusste, dass ich in Tasiilaq landen würde, wenn der Winter und der erste Schnee den Ort bereits bedeckt haben und dass Schnee Teil meines täglichen Lebens sein würde. Nicht nur, weil ich dort überwintern würde, sondern auch wegen unseres Projektthemas. Ich hatte keine Ahnung von all den Variationen des Schnees, die involviert sein würden. Dazu gehören unter anderem Schneeschaufeln, Gespräche über Schnee, das Erleben der Aufregung, wenn Schneeflocken am Himmel tanzen, und die Relevanz von Schnee in Bezug auf Eis für Mobilität und Transport. Ich tauche ein in ein verschneites Gebiet und betrachte unser interdisziplinäres Forschungsprojekt durch die Linse meiner Disziplin: der Anthropologie, die sich mit menschlichen Erfahrungen befasst. Durch ethnografische Feldforschung erforsche ich Mensch-Umwelt-Beziehungen, Kollaboration mit einem Schwerpunkt auf arktischer Ethik und Methoden, wenn ich mich mit Einheimischen über vorhergesagte und auftretende Umweltveränderungen interagiere.

Von Wetter und menschlichen Erfahrungen

„Es ist ein stiller und ruhiger Wintermorgen; der Himmel ist in verschiedene Blautöne getaucht. Wir sitzen im Ammassalik Museum mit Blick auf den Hafen von Tasiilaq und genießen schweigend eine Tasse Kaffee und die Aussicht. Im Hintergrund läuft ein grönländischer Song im Radio. Das Lied scheint den Moment zu entfachen. Für mein Verständnis wird erwähnt, dass die Band über das Wetter singt und einige Zeilen vereinfacht übersetzt: ‚Niemand entscheidet allein, es ist das Wetter, das (für dich) in Grönland entscheidet.‘ Wir nicken zustimmend, die vibrierenden Geräusche des Piteraq vom letzten Wochenende, mit dem kalten Wind, der sich heranschleicht und sich seinen Weg durch die Ritzen in die Häuser bahnt, im Kopf.“

Hintergrund info: Piteraq ist der grönländische Begriff für einen kalten und erstaunlich heftigen Wind, der von der polaren Eiskappe ausgeht und die Ostküste hinabfegt. Es bedeutet übersetzt „das Ding, das dich angreift“, da es innerhalb weniger Minuten nach unten fegen und dich mit großer Wucht und Windgeschwindigkeiten von 40 bis 80 m/s angreifen kann (zur Referenz das sind zwischen 145 und 300 km/h).

Das Gespür für das Wetter knüpft auch an Lektion Nummer eins über das Leben in Ostgrönland an: „Erwarte nicht, dass dein Zeitplan nach Plan läuft.“ Ein Ratschlag, den wir gut kennen und den wir vor unserer Abreise wiederholt erhalten hatten. Trotzdem fragte ich mich, wie gut wir das umsetzen und die Kontrolle loslassen können. Auch wenn es aus strukturierter und organisierter Sicht nach etwas Negativem klingen mag, denke ich, dass es eine der größten Chancen im Rahmen meines ostgrönländischen Abenteuers ist. Die Erfahrung anzunehmen bedeutet loszulassen und dem Rhythmus des Wetters zu folgen. Gewiss beherrscht es die Ostküste Grönlands.

Anna gräbt ein Loch für einen Schneeschacht inmitten des kalten und windigen Wetters in Tasiilaq.

Lasst und in den Schnee eintauchen. Wir verbrachten viel Zeit mindestens knietief im Schnee. Da sich das Wetter ziemlich schnell ändern kann, fanden wir uns an den bewölktesten, windigsten und kältesten Tagen draußen beim Schneesensor wieder; inmitten heftigen Schneefalls, während uns Hagelkörner ins Gesicht schlugen oder Windböen den Schnee direkt zurück in das Loch fegten, das ich gerade dabei war zu graben. Dies war meine „hands-on“ praktische Einführung in die Schneeklimatologie. Auf diese Weise bin ich in eine neue Disziplin eingestiegen und habe den Schnee, die Klimatologie und den Prozess der Erhebung von Schneedaten und manuellen Messungen kennengelernt. Da geplant ist, dass ich als Anthropologin während meiner Zeit in Tasiilaq eigentständig manuelle Schneemessungen durchführe, war ich bestrebt, so viele Aspekte wie möglich zu verstehen. Zu dieser Zeit wusste ich natürlich noch nichts von den unvorhergesehenen Herausforderungen, die auf mich warten würden, nachdem Jorrit Tasiilaq wieder verlassen hatte. Jeder Tag ist ein neues Abenteuer und wie Jorrit es treffend ausdrückte: „Wir sind in Grönland, also müssen wir improvisieren.“

Während jeder von uns seine eigene Perspektive hat, als individueller Mensch und durch die Linse der Disziplin, geht es um den gemeinsamen Lernprozess, wie man diese Perspektiven zum Nutzen der Forschung und der BewohnerInnen von Tasiilaq zusammenbringt. Zur Veranschaulichung, jeder von uns beiden mag vielleicht manchmal sein eigenes Loch graben, aber wir finden dennoch gemeinsam unseren Weg zurück, indem wir das Fachwissen und den Beitrag des jeweils Anderen zur Forschung wertschätzen.

Jorrit und Anna führen eine manuelle Schneemessung durch.

Was wir mit diesem dreiteiligen Artikel demonstrieren, offenbart die Stärke unserer interdisziplinären Forschung. Es geht darum, Narrative unserer individuellen Erfahrungen zu teilen und über den Prozess der Zusammenarbeit nachzudenken. Dadurch wagen wir es, in einem offenen Diskurs zu hinterfragen und zu reflektieren. Es sind oft die kleinen Dinge, die eine Hürde darstellen, aber offenbaren, was in bestimmten Situationen als „normal“ oder „Gewohnheit“ empfunden wird. Wir sind zum Beispiel über die unterschiedlichen Verwendungen bestimmter Begriffe des Schnees gestolpert und wie diese in den einzelnen Disziplinen und in der alltäglichen Sprache verwendet werden. Es ermöglicht uns, intensiv darüber nachzudenken, was wir in unserer eigenen Forschung tun und schätzen, und wie wir unsere Perspektiven anderen Menschen auf verständliche Weise vermitteln können. Nicht zu vergessen, Improvisation im Sinne von Eigeninitiative und Kreativität vor Ort sind sehr wertvolle Fähigkeiten in Ostgrönland.

Vor Ort mit anpacken

Jorrit und ich betraten das Ammassalik Museum zum ersten Mal mit der Absicht, dass es ein geeigneter Ort für unser erstes öffentliches lokales Treffen sein würde, da es bald wiedereröffnet werden sollte. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Entscheidungen an diesem Tag mir den Weg ebnen würden, von einigen Menschen als Teil der Gemeinschaft in Tasiilaq akzeptiert zu werden. Als ich vor Ort sah, dass das Museum noch lange nicht fertig für eine Eröffnung war, reagierte ich spontan, indem ich unsere Hilfe beim Reinigen und Vorbereiten anbot. Diese Geste hat mittlerweile dazu geführt, dass ich wochenlang geholfen habe Böden zu schrubben und Glasvitrinen zu reinigen, interessante Ausstellungsstücke entdeckt habe und Geschichten über deren Rolle in der Geschichte Ostgrönlands lauschen durfte. Diese gemeinsame Tätigkeit, begleitet von gemeinsamen Gesprächen, hat die Grundlage für eine langfristige Zusammenarbeit mit dem Ammassalik Museum gelegt. Darüber hinaus hat mich diese Erfahrung um Freundschaften und Lernmöglichkeiten bereichert. Indem ich darauf achte, was für die Menschen relevant ist, anstatt mich nur auf das Forschungsthema zu limitieren, habe ich von den Menschen in Tasiilaq Anerkennung für meinen Beitrag erhalten, einen Teil der lokalen Geschichte wieder für alle zugänglich zu machen. Denn viele Menschen hier haben persönliche Beziehungen zu den ausgestellten Stücken.

Blick auf die alte Kirche, die jetzt das Hauptgebäude des Ammassalik Museums ist, an einem ruhigen und verschneiten Tag mit Vollmond, nur Stunden vor einem piteraq.

Die Stärke einer Tasse Kaffee

Neben unseren Aktivitäten im Schnee kann eine weitere unserer Hauptaktivitäten als „Kaffee genießen“ bezeichnet werden. Wir wurden mit Kaffee in den Häusern oder Büros der Menschen begrüßt. Wir haben uns und unsere Arbeit bei einem Kaffee den Menschen in Tasiilaq vorgestellt. Wir tauschten Geschichten aus und lachten, genauso wie wir die Stille und den schönen Ausblick bei einem Kaffee genossen. Für jede Art von Gespräch, informell oder Meeting, darf Kaffee nicht fehlen. Es ist auch ein wesentlicher Bestandteil eines Kaffemik. Bei einer Tasse Kaffee kann viel passieren, das sollte nie unterschätzt werden. Es ist ein Ort, an dem Geschichten geteilt, Erinnerungen wachgerufen und Ideen über die Zukunft geschaffen werden. Was „sich die Zeit nehmen“ in der Praxis bedeutet, lässt sich auch am deutlichsten durch das Zeit verbringen bei einer Tasse Kaffee demonstrieren. Es ist eine Art, Teil des Alltags und Gewohnheiten zu werden, in der wir gemeinsame Momente erleben und den mit uns geteilten Geschichten über das Leben näherkommen. Zum Nutzen der Forschung hatten Jorrit und ich auch viele angeregte Diskussionen und Gespräche begleitet von Kaffee, über unseren gemeinsamen Ansatz und die nächsten Schritte. Zu guter Letzt sollten man die Wärme einer Tasse Kaffee nicht unterschätzen, besonders nachdem man Stunden draußen in der Kälte und im Schnee verbracht hat.

Hintergrund info: Kaffemik ist ein traditionelles Beisammen sein nach dem Prinzip der offenen Tür, bei dem Kaffee serviert wird. Das grönländische Wort und das Konzept stehen für Zusammentreffen im eigenen Haus zu besonderen Feierlichkeiten wie Geburten, Geburtstagen, Einschulungstagen oder Konfirmationen. Kaffemik ist eine Vereinfachung des Wortes ‚kappiddilorpuu‘ für die Dänisch sprechende Bevölkerung in Grönland, das übersetzt ‚wir geben Kaffee aus‘ bedeutet. In früheren Tagen war Kaffee ein Luxusgut und zeigt dementsprechend die Wertschätzung für die Gäste. Das Offene-Tür-Konzept ermöglicht es den Menschen, einzutreten, Kaffee sowie leckeres Essen und gute Gesellschaft zu genießen, und anschließen glücklich zu gehen, wenn es an der Zeit ist, Platz für neue Gesichter zu schaffen, die an den Feierlichkeiten teilnehmen. Die Freude erstrahlt aus dem Raum voller Menschen, die sich angeregt unterhalten.

Gedeckter Tisch für den bevorstehenden kaffemik und ein gemütlicher Ort um eine Tasse Kaffee zu genießen.

Präsent sein in Tasiilaq

Eine der größten Herausforderungen der ersten vier gemeinsamen Wochen in Tasiilaq war, dass Jorrit und ich diesen speziellen Zeitrahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachteten. Es war die Eingangsphase der Feldforschung. Doch für mich war es der Beginn eines achtmonatigen Aufenthalts in Tasiilaq, während es für Jorrit ein vierwöchiger Aufenthalt war, um Leute zu treffen und die Forschung zu initiieren, die fortgesetzt werden sollten, wenn er im Juni nochmals zurückkehrt. Während ich mir keinerlei Gedanken um die Zeit gemacht habe, schien Jorrit sich mehr Sorgen um die Zeit in Bezug auf den Fortschritt unserer Arbeit zu machen. Dies kann ein schwieriger Balanceakt sein, wenn man bedenkt, wie wichtig es ist sich die Zeit zu nehmen, auch zum Wohle der Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort. Ich bin fest davon überzeugt, dass die vier Wochen ein guter Start waren, in dem wir unser Bestreben für einen angemessenen Ansatz im Umgang mit den Menschen in Tasiilaq unter Beweis stellen konnten, was von vielen Einheimischen begrüßt wurde. Mit Jorrit‘s Abreise hat für mich eine andere und aufregende Zeit begonnen. Eine Zeit, in der ich die Forschung alleine vertrete und durchführe und jetzt mit Jorrit auf Distanz jongliere, während ich in Tasiilaq präsent bin. Mit Blick auf die Bergkette, bin ich glücklich hier zu sein und freue mich auf das, was mich als Nächstes erwartet.

Aussicht über Tasiilaq mit der Bergkette im Hintergrund.

Medieninformation

Verfasst von Anna Burdenski.
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© Bilder von Anna Burdenski und Jorrit van der Schot.
Die Aktivitäten von Snow2Rain können auch über Facebook, Instagram oder ihre Webseite verfolgt werden.

Über die wissenschaftliche Autorin

Anna Burdenski, Doktorandin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.

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