Polare und subpolare Regionen waren für den größten Teil der dokumentierten Geschichte „terrae incognitae", nahmen jedoch gleichzeitig in kosmologischen Konzepten eine bedeutende Stellung ein. Deshalb gehörten Narrative zu den „Rändern der Welt” zu den frühesten geographischen Informationen, die über die Grenzen der frühen Zivilisationen des Eurasischen Kontinents hinaus kommuniziert wurden.
In seinem Polar Talk #16 diskutiert Alexander Jost zunächst das Entstehen empirischer, spekulativer und imaginärer Geographien in Bezug auf den hohen Norden. Ausgehend von der Chinesischen Perspektive stellt er das Konzept der „Polaren Utopie” vor, welches in den Mythologien verschiedener Eurasischer Kulturen der Antike zu finden ist. Anschließend kommt er auf die besondere Rolle der Mongolen für die Verbindung zwischen den subpolaren und den gemäßigten Regionen Ostasiens zu sprechen. Zuletzt demonstriert er das Fortbestehen mythologischer Vorstellungen und etablierten Halbwissens zu Nordasien auf chinesischer wie auf europäischer Seite im Kontext der chinesischen Kartographie der Jesuiten im 17. Jahrhundert.
Wang Junfu (fl. 1650): Da Ming jiubian wanguo renji lucheng quantu. Vollständige Karte der menschlichen Spuren und Reiserouten zwischen den zahllosen Ländern innerhalb der neun Grenzen der Großen Min, Harvard-Yenching Library (© Foto Alexander Jost)
Polare Utopien zwischen China und Griechenland
Der daoistische Philosoph Lie Yukou (Liezi), dessen Schriften auf das 4. – 5. vorchristliche Jahrhundert zurückgehen, beschreibt ein Land des „Äußersten Nordens” (zhong bei), in welchem jenseits von Bergen das harsche Klima wieder in ein mildes umschlägt und in dem eine ideale Gesellschaft in Gleichheit und Harmonie, ohne Angst vor Krankheit und Tod, und voll Hingabe für Tanz und Musik ihr glückliches Leben führen. Zahlreiche Aspekte dieses Narratives finden sich auch bei klassischen Autoren der europäischen Antike, allen voran Pindar, der die Hyperboreer jenseits des Nordwindes und der Rhipäischen Berge mit bis ins Detail ähnlichen Attributen beschreibt. Als „Missing Link” – oder sogar Ursprung – für eine mögliche zu Grunde liegende Übertragung dieses Stoffes von einem Ende des eurasischen Kontinents ans andere bietet sich die Legende des Volkes der Uttara Kuru in den Sanskrit-Epen des Rāmāyaṇa und des Mahābhārata, welche ihrerseits eine sehr ähnlich charakterisierte Gesellschaft weit nördlich des Himalaya plazieren. Während die problematische zeitliche Einordnung vor allem dieser indischen Texte ein abschließendes Nachvollziehen dieser Transferprozesse schwierig macht, lässt sich in jedem Fall festhalten, dass der Versuch, den unzugänglichen nördlichen Rand der Welt zu verstehen, im Kontext noch relativ spärlicher Vernetzung über die Weiten Eurasiens hinweg eine bedeutende Rolle gespielt haben muss. Das imaginäre geographische Konzept einer warmen, lebenswerten Welt jenseits der extremen Kälte des Nordens erfeute sich hierbei offensichtlich sowohl großer Glaubhaftigkeit als auch großer Popularität.
Darstellung des daoistischen Philosophen Liezi (5. Jahrhundert v. Chr.) von Zhang Lu (1464-1538), Shanghai Museum (© Wikimedia Commons)
„Der Name dieses Landes ist ‚Äußerster Norden’; ich weiß nicht, wo seine Grenzen liegen. Sein Klima ist mild, und es gibt keine Epidemien. Die Menschen sind von Natur aus sanft und nachgiebig und streiten nicht.”
Liezi, 4.-5. Jahrhundert v.Chr.
Das mongolische Sibirien
Wie das Bild der durch die Geschichte hindurch immer wieder erneuerten Chinesischen Mauern vor Augen führt, war der Steppengürtel mit den ihn bewohnenden nomadischen Bevölkerungsgruppen zumindest seit dem ersten vorchristlichen Jahrtausend immer eher ein Hindernis als ein Verbindungsglied zwischen China und der Tundra und der Taiga Sibiriens. Mit den mongolischen Eroberungen des 13. Jahrhunderts änderte sich diese Konstellation spürbar. Nicht nur stießen die Armeen Dschinghis Khans bereits in den ersten Jahren ihrer Expansion weit in die Waldgebiete um den Baikalsee vor, es kam auch ab der Herrschaftszeit Ögedei Khans (r. 1229-1241) zu mehreren organisierten Expeditionen nach Norden, sowohl nach Sakhalin als auch mindestens zweimal entlang der Flüsse Angara und Jenissej bis zu dessen Mündung in die Karasee. Eine Expedition unter Godan (1206-1251) erreichte den „Berg, über dem die Sonne niemals untergeht” und konnte mit verschiedenen Legenden über die Menschen des Nordens aufräumen, eine weitere auf Geheiß von Sorghaghtani Beki (1190-1252), der Mutter Hülegüs und Khubilais, auf der Suche nach dem Silber Sibiriens endete nach Berichten Rashīd al-Dīns in einer Katastrophe und im Tod von zwei Dritteln ihrer Teilnehmer.
Buchabbildung von Sorghaghtani Beki (1190-1252) in Rashid al-Din (1247-1318). Aus „Kompendium der Chroniken“, Bibliothèque Nationale, Paris.
Die Expeditionen hatten allerdings den Wasserweg nach Norden geöffnet und ermöglichten zwei bis drei Jahrzehnte später, als nach der Gründung der Yuan-Dynastie unter Führung des chinesischen Astronomen Guo Shoujing eine Kalenderreform durchgeführt und das Reich vermessen wurde die Etablierung astronomischer Messstationen auch in diesen Regionen, so im Gebiet der Tiele entlang der Angara (wohl nahe der heutigen Stadt Bratsk) und unter dem Namen „Nordmeer-Messstation” vermutlich auf ca. 65° nördlicher Breite an einem Nebenfluss der Unteren Tunguska. Durch ihren universalen Herrschaftsanspruch und ihre Förderung der Astronomie hatten die Mongolen einen bedeutenden ersten Schritt hin zu einem rationalen Verständnis der scheinbar unermesslichen Weiten des Nordens ermöglicht.
Die jesuitische Arktis
Mit seiner „Gesamtkarte der unzähligen Länder der Erde“ gelang dem jesuitischen Missionar Matteo Ricci (1552-1610) mit Unterstützung seiner chinesischen Mitstreiter Li Zhizao und Zhang Wentao 1602 ein bedeutender Schritt bei der Vermittlung des neuesten Standes europäischer Kartographie aus dem Zeitalter der Entdeckungen nach China. Während die detaillierte Darstellung der fünf Kontinente (plus der terra australis bzw. „Magellanica“) eine revolutionäre Gelegenheit darstellte, lagen große Teile der Gebiete nördlich des Polarkreises buchstäblich noch im Dunkeln. Ricci visualisierte diese Regionen durch die Einfügung imaginärer Inseln, denen er großzügig Beschriftungen beigab, um die Leere zu füllen und zumindest oberflächlich den Eindruck zu erwecken, dass auch zu diesen offensichtlichen terrae incognitae die Jesuiten um keine Antwort verlegen seien.
Matteo Ricci (1552-1610) et al.: Kunyu wanguo quantu. Vollständige Karte der zahllosen Länder der Erde. Kano Collection, Tohoku University Library, Japan (© Wikimedia Commons)
Neben Gemeinplätzen über die harschen Witterungsbedingungen bediente sich Ricci hierbei interessanterweise nicht nur im Legendenschatz des antiken und mittelalterlichen Europas zum Hohen Norden, sondern band auch in großem Stil chinesisches Halbwissen, vor allem aus dem Tongdian, einem enzyklopädischen Werk des 8. Jahrhunderts, ein. Die Verwendung dieser vermutlich relativ weit bekannten Legenden scheint zu diesem Zeitpunkt zur Steigerung der Glaubwürdigkeit seines Werkes beigetragen zu haben und führte dazu, dass auch seine Einfügung europäischer Legenden, wie z.B. der schon aus Homer bekannten Geranomachie, des Kampfes der Pygmäen mit den Kranichen, Eingang in chinesische und japanische Landkarten der folgenden Jahrzehnte fanden.
Medieninformation
Geschrieben von Alexander Jost.
Layout durch das APRI-Medienteam.
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Titelfoto: Schamanische Stele am Baikalsee, © Christoph Ruhsam
Über den wissenschaftlichen Autor
Alexander Jost ist Senior Scientist für Globalgeschichte an der Universität Salzburg und wisschenschaftlicher Direktor des Forum Asia-Pacific der Universität.