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Als Austrian Polar Research Institute Media Officer hatte ich das Vergnügen mit Philipp Budka vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien über seine Projektverantwortung im Projekt InfraNorth zu sprechen.

Mag. Dr. Philipp Budka ist Post-Doc-Forscher und Lehrbeauftragter und hat sein Doktorat an der Universität Wien mit einer Dissertation über sozio-technischen Wandel in abgelegenen First-Nation-Gemeindschaften in Kanada abgeschlossen. Seine Forschung zeigt unter anderem, dass digitale Infrastrukturen zur Schaffung und zum Erhalt sozialer Beziehungen sowie zum kulturellen Empowerment beiträgt.

InfraNorth, oder in der Langversion „Building Arctic Futures: Transport Infrastructures and Sustainable Northern Communities“, ist ein großes Europäisches Forschungsprojekt, das vom Europäischen Forschungsrat gefördert wird und von Univ.-Prof. Dr. Peter Schweitzer, stellvertretender Vorstand des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und Vorstandsmitglied im Austrian Polar Research Institut, initiiert wurde und durchgeführt wird. Die übergreifende Forschungsfrage – Welche Rolle spielen Transportinfrastrukturen für  arktische Gemeinschaften? – ist anspruchsvoll, zieht doch die Arktis aus verschiedenen Gründen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich: Geopolitik, (Re)Militarisierung, Rohstoffgewinnung, Tourismus und Umweltschutz angesichts des raschen Klimawandels sind Treiber für ein besseres Verständnis der „neuen Arktis“. Viele dieser Aktivitäten erfordern den Bau oder die Modernisierung von Transportinfrastrukturen in diesem relativ abgelegenen, unzugänglichen und kaum bevölkerten Teil der Welt. Diese groß angelegten Infrastrukturen werden zwar zumeist von außen finanziert, können aber tiefgreifende Auswirkungen auf die Anwohner haben. Daher umfasst das Projekt den gesamten arktischen Raum von Europa über Nordamerika bis Russland, wobei bei letzterem durch die derzeitige weltpolitische Lage viel Unsicherheit über die mögliche Einbindung besteht.

Logo des InfraNorth Projekts (©InfraNorth)

Das Interview

APRI: Was sind die Schwerpunkte des Projektes und welchen Anteil übernimmst du dabei?

Philipp: Das Projekt addressiert verschiedene Aspekte des Einflusses von Transportinfrastrukturen auf die lokale Bevölkerung. Mein Forschungsschwerpunkt besteht darin zu verstehen, ob die bestehenden und geplanten Transportinfrastrukturen das dauerhafte und nachhaltige Leben in Gemeinschaften der Arktis unterstützen oder ob sie den Trend verstärken, dauerhafte BewohnerInnen durch Temporäre im Bereich der Schichtarbeit, Tourismus und Militär zu ersetzen.

APRI: Mit welchen Forschungsmethoden soll das untersucht werden?

Philipp: Das Projektteam besteht aus ForscherInnen der Kultur- und Sozialanthropologie und Geographie. Wir setzen ethnographische Feldforschung und quantitative Erhebungen ein, um Daten zu gewinnen, die dann helfen sollen nicht nur auf lokaler, sondern auch auf regionaler Ebene Muster zu erkennen und zu vergleichen. Daraus schließen wir auf die materiellen und die nicht-materiellen Verflechtungen von AnwohnerInnen und Transportinfrastrukturen in den drei arktischen Regionen Europa, Nordamerika und Russland.

APRI: Was sind die Forschungsziele?

Philipp: Unsere übergreifende Forschungsfrage über die Rolle von Transportinfrastrukturen in arktischen Gemeinschaften ist sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene von dringender Bedeutung, um Beiträge zu sammeln und Entscheidungsoptionen zu entwickeln. Wir möchten mit den Ergebnissen zu kritischen Gesprächen über die Zukunft der Arktis beitragen. Ich habe vor InfraNorth über die Entwicklung und Nutzung von digitalen Infrastrukturen in abgelegenen kanadischen Gemeinschaften geforscht. Diese Erfahrungen bringe ich als Leiter der Nordamerika Region von InfraNorth ein. Mein Forschungsgebiet ist in Churchill an der Hudson Bay in der kanadischen Provinz Manitoba.

Geographische Verortung von Churchill (©Google)

APRI: Wie und wo findet deine Feldforschung genau statt?

Philipp: Churchill ist der einzige Ort in der nordamerikanischen Arktis, wo ein Tiefseehafen mit einer Eisenbahnstrecke verbunden ist. Diese Transportinfrastrukturen ermöglichen seit 1929 den Export von Getreide aus den großen kanadischen Anbaugebieten. Vor der Errichtung der Eisenbahn gab es einen Handelsposten, der unter anderem der Hudson Bay Company zum Handel mit der lokalen Bevölkerung diente. Die Errichtung der Hudson Bay Railway (HBRY) trug maßgeblich zum Wachsen des Ortes bei. Churchill ist nicht über Straßen erreichbar und hatte etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts mehrere tausend EinwohnerInnen – vor allem militärisches Personal in Fort Churchill rund um den Flughafen. Heute zählt der Ort nur mehr knapp 900 permanente BewohnerInnen.

Die HBRY beginnt in The Pas und erstreckt sich 1.300 km über subarktisches Wald- und Tundraland bis Churchill, wobei es viele technische Hürden beim Bau der Strecke – die großen Temperaturunterschiede zwischen Sommer mit bis zu 30°C im südlichen Teil und -50°C im nördlichen Teil im Winter, wilde Flüsse und Permafrostböden – zu überwinden gab. Da die Hudson Bay lediglich etwa 3 Monate im Jahr eisfrei ist, operieren auch Schiffe und in weiterer Folge dieselbetriebene Güterzüge, die Getreide zum Hafen transportieren, nur in diesem engen Zeitfenster.

APRI: Wie wirkt sich der Gütertransport auf die Bewohner von Churchill aus?

Philipp: Ich konnte Covid-bedingt erst ein Jahr nach Projektbeginn im Februar 2022 meine Feldforschung in Churchill beginnen. Davor hatte ich aber Recherchen zur Transportsituation in der Region durchgeführt. Überraschend für mich war, dass die Länge der Transportsaison von Versicherern der Schiffsladungen in London festgelegt wird, basierend auf Risikoabschätzungen für die Befahrung der Schifffahrtsrouten in der Hudson Bay, die klimabedingt nur kurz im Sommer geöffnet sind. Ich hatte das Glück, mit dem CEO der Firma zu sprechen, die seit 2018 die HBRY und den Hafen in Churchill besitzt. Wegen der zunehmend milderen Winter und der kürzeren Eisbedeckung auf der Hudson Bay strebt er eine Verlängerung der Transportsaison an, um dadurch einen ökonomischen Vorteil zu erwirtschaften.

Bei einer Flutkatastrophe wurde 2017 die HBRY Eisenbahnstrecke unterspült und wurde für 18 Monate geschlossen. Das hatte auf Churchill und seine EinwohnerInnen verheerende Auswirkungen, denn die Gemeinschaft kann nur über die HBRY kostengünstig versorgt werden, etwa mit Lebensmitteln, Treibstoff oder anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Der Transport dieser Güter mit dem Flugzeug ist natürlich viel teurer.

In etwa einem Jahr werden dann die Auswirkungen der derzeit stattfindenden Hafen- und Schienenerneuerung zu beobachten sein.

APRI: Werden auch andere Güter transportiert?

Philipp: Die Verzahnung Eisenbahn – Hafen wurde vor allem auf den Transport von Getreide ausgelegt.  Allerdings kommen auch Güter des täglichen Bedarfs vor allem mit dem Zug nach Churchill. Die HBRY Strecke kann mit ca. 50 km/h nur relativ langsam befahren werden, da die Züge schwer sind und die Gleisanlagen nicht überbeansprucht werden dürfen. Erze werden nur auf kleineren Nebenstrecken von Abbaugebieten im Norden zur Verarbeitung in die Industrien im Süden transportiert. Der Personentransport ist ebenso wichtig, da er mit dem Zug deutlich günstiger ist als mit dem Flugzeug und da Churchill keine Straßenanbindung hat. Seit den 1980er kommen auch vermehrt Touristen nach Churchill, manche mit dem Zug, viele aber mit dem Flugzeug.

APRI: Gibt es etwas, was dich an Churchill besonders fasziniert?

Philipp: Ja, es hat mich erstaunt, dass die Transportinfrastrukturen dort so überdimensioniert wirken, bezogen auf die Größe des Ortes. Die Getreidespeicher am Hafen wirken aus dem Ort gesehen nahe, sind aber, zwischen Churchill River und Hudson Bay gelegen, doch weiter weg, sodass ich es bei -50°C bald aufgab dorthin zu Fuß zu gehen und eine Mitfahrgelegenheit nutzte. Der Flughafen ist aufgrund der ursprünglich militärischen Nutzung und obwohl er nach Abzug des Militärs verkleinert wurde noch immer sehr groß dimensioniert, so dass er sogar in die Liste der Ausweichlandeplätze für das Space Shuttle aufgenommen wurde.

APRI: Wie steht es um den Ökotourismus, der Churchill zur „Eisbärenhauptstadt“ gemacht hat?

Philipp: Dieser hat enormen Aufschwung erfahren, auch wegen des Klimawandels. Der Eisbär, der in Churchill vor allem im September und Oktober, wenn bis zu 1500 Tiere auf das Zufrieren der Hudson Bay warten, gesehen und hautnahe erlebt werden kann, ist ja das Symbol des Klimawandels schlechthin. Deswegen zieht es seit den 1980-er Jahren immer mehr – vor allem gutbetuchte – TouristInnen  nach Churchill.

Die Beobachtung und das Fotografieren der erst kürzlich geborenen Eisbärenbabies Ende Februar und Anfang März, wenn sie zum ersten Mal die Geburtshöhle mit ihrer Mutter verlassen, lassen sich Veranstalter in einem Gesamtreisepaket bis zu 14.000 CAD für einige Tage gut bezahlen.

Der Tourismus ist also ein wesentlicher saisonaler Arbeitgeber, vor allem in der „Bear Saison“. Da boomen die Charterflüge und die Frequenz der Personenzüge wird erhöht.

Eisbär in der Bibliothek von Churchill, Manitoba

APRI: Ist die Strecke grundsätzlich ganzjährig befahrbar?

Philipp: Ja, die HBRY Strecke führt über 48 Zwischenstopps, bei denen auch Pakete und Briefe verladen werden, ganzjährig von The Pas nach Churchill. Ob das rentabel ist, kann ich nicht sagen. Ich war Covid- und Saison-bedingt nur einer von 5 Passagieren – im Winter werden im Norden Manitobas gerne Iceroads als billige Transportinfrastruktur genutzt. Teams mit Autos auf Eisenbahnrädern fahren die Strecke regelmäßig ab, kontrollieren deren Zustand und bessern diese bei Bedarf auch aus. Im Winter dienen Schneeräumlokomotiven der Beseitigung von großen Schneewehen, wenn diese von anderen Lokomotiven nicht mehr weggeschoben werden können.

APRI: Wer sind die Arbeitgeber in Churchill?

Philipp: Es erstaunt schon, dass der Hafen mit seinen großen Gebäuden auf dem riesigen Areal nur der zweitgrößte Arbeitgeber für etwa 70 Personen ist. Und das nur saisonal. Der größte Arbeitgeber ist der Gesundheitsbereich, das „Health Centre“, und das ganzjährig. Dazu kommt der Tourismus und unterschiedlichste Anbieter, die saisonal etwa viele Tourguides, Restaurantpersonal etc. benötigen. Die beträchtlichen saisonalen Schwankungen wirken sich auf die Anzahl der EinwohnerInnen aus. Ich habe mit BewohnerInnen gesprochen, die sagen, dass der Ort nicht weiter schrumpfen darf. Es gibt sogar ein Programm, um neue BewohnerInnen zu finden und zu motivieren nach Churchill zu ziehen.

APRI: Gibt es ein Interesse der BewohnerInnen an der InfraNorth Forschung?

Philipp: Das Interesse ist eindeutig gegeben. Einige Bewohner*innen waren froh einmal über etwas anderes als dem Klimawandel und die Eisbären zu reden. Mir ist es wichtig, bei den Gesprächen mit Vorsicht vorzugehen und zuerst Vertrauen aufzubauen, bevor man etwa Fragebögen verteilt oder Interviews aufnimmt. Deshalb war ich mit diesen Erhebungsmethoden noch etwas zurückhaltender. Ich lebte im Haushalt einer Familie mit, die viel Erfahrung mit der lokalen Transportinfrastruktur hat. Die vielen informellen Gespräche, die sich ergaben, haben sich als besonders wertvoll herausgestellt. Da wurde über eine weite Bandbreite an Problemen und Möglichkeiten gesprochen, von denen ich in meinem Feldforschungstagebuch Notizen und Protokolle anfertigte. Neben teilnehmender Beobachtung und qualitativen Interviews wird in InfraNorth auch ein standardisierter Fragebogen eingesetzt, der in Kürze auch digital verfügbar sein wird.

Borealer Wald aus dem Zug nach Churchill, Manitoba

APRI: Zuletzt wäre es interessant zu wissen, ob du schon erste Ergebnisse erkennen oder prognostizieren kannst?

Philipp: Da ist vieles noch sehr spekulativ, aber es zeichnet sich für mich ab, dass der Klimawandel von ArktisbewohnerInnen anders erlebt und bewertet wird als von der nichtarktischen Bevölkerung. Die Auswirkungen sind ja nicht immer ein Nachteil für lokale Gemeinschaften, so bedeutet etwa eine länger eisfreie und damit schiffbare Hudson Bay mehr Arbeitsplätze in Churchill. Geopolitisch könnte es durch den Krieg in der Ukraine zu einer Remilitarisierung arktischer Regionen kommen. Ich habe gegen Ende meines Aufenthaltes in Churchill Militärtransporter auf dem Flughafen wahrgenommen, die es zu Beginn meiner Feldforschung noch nicht gab. Wie sich der Tourismus in Churchill entwickeln wird, ist derzeit schwer abzuschätzen. Das lokale Leben und die Transportinfrastrukturen sind aber eng mit diesem Wirtschaftszweig verwoben und werden das vermutlich auch bleiben.

APRI: Vielen Dank, Philipp, für das interessante Gespräch! Wir wünschen dir und dem ganzen Projekt viel Erfolg und hoffen, bald über Neuigkeiten berichten zu können.

Philipps Feldforschungstagebuch Notizen, Manitoba, Februar 2022

Medieninformation

Verfasst vom APRI Media Officer Christoph Ruhsam.
Kontakt: Nützen Sie das Kontaktformular.
Bilder: Copyright wenn nicht anders angegeben Philipp Budka.
Die Aktivitäten von InfraNorth können auch über Facebook, Instagram sowie Twitter oder der Projekt-Webseite verfolgt werden.

Über den wissenschaftlichen Autor

Philipp Budka, PostDoc am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.
Lesen Sie in seinem Blog-Post über die 50-stündige Zugreise nach Churchill.

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