Menschen! Jenseits einer „romantisch-wilden“ Natur in einer „unberührten“ Arktis
Eine Veranstaltung des Austrian Polar Research Institute APRI mit Jakob Abermann, Helena Bergstedt, Sophie Elixhauser, Susanna Gartler, Alexis Sancho Reinoso, Birgit Sattler, Gertrude Saxinger, Katrin Schmid, Wolfgang Schöner, Peter Schweitzer, Klemens Weisleitner.
Am 08.11.2023 um 18:30 Uhr findet der #9 Polar Talk im Naturhistorischen Museum Wien statt.
Glitzernde Flüsse schlängeln sich durch tiefe Wälder und Gebirge, Grizzlies fangen mit ihren Mäulern die springenden Lachse. Spendenaufrufe für den sterbenden Eisbären, der einsam auf der Eisscholle traurig ist. Ach! Bei der Spende zu seiner Rettung treffen Mensch und die vermeintlich endlosen Weiten am nördlichsten Ende der Welt zusammen. In Jamal, Sibirien, werden die Verankerungen der Eisenbahnschienen künstlich gekühlt, sodass der rapid schwindende Permafrost sie nicht versinken lässt – so wie die vielen, oft windschief werdenden Bauten in Klein- und Großstädten rund um den Polarkreis.
Industrieanlagen für Erdölförderung und -Verarbeitung wie jene am Bild, durchziehen nicht nur die Weiten der Taiga im Khanty Mansi Autonomen Kreis in Russland. Kleinere, aber auch sehr große Industriestädte entstanden seit den 1960er Jahren in Nord-westsibirien, als in Sowjezeiten die massiven Erdöl- und Erdgasvorkommen erschlossen wurden. (© Gertrude Saxinger)
Indigene Gesellschaften, kolonisiert in der älteren und manchmal auch sehr jungen Vergangenheit, revitalisieren ihre ihnen teilweise brutal genommenen kulturellen Identitäten und Praktiken und werden dabei in manchen Staaten immer mehr politisch selbstbestimmt und/oder kämpfen dafür; letzteres kann z.B. nationalstaatliche Verbriefung vom Recht auf Selbstverwaltung und von Konsultations- und Mitbestimmungsrechten in der Landnutzung bedeuten, oder aber auch die Entwicklung von Strategien (z.B. Proteste, Blockaden, Gerichtsklagen etc.) zur Abwehr der Gefährdung der Lebensgrundlagen von Indigenen durch Energie- und Rohstoffindustrien oder zur Einforderung von staatlicher Anerkennung von bestehenden indigenen Rechten in der nationalen und regionalen politischen Praxis. In Russland jedoch werden indigene Forderungen und insbesondere jedwede Proteste massiv unterdrückt und Menschen eingeschüchtert sowie mittlerweile eingesperrt.
Der Hunger nach erneuerbarer Energie in der sogenannten „grünen Wende“ löst eine neue, von indigenen Bewohner:innen der Arktis „grüner Kolonialismus“ genannte, Landnahme für riesige Windparks und den Abbau von Rohstoffen, notwendig z.B. für e-Auto-Batterien und digitale Technik, aus. Manche Anrainergemeinden profitieren, und Arbeitsplätze entstehen zum Beispiel. Doch diese positiven Effekte der industriellen Aktivitäten täuschen nicht darüber hinweg, dass oft existierende internationale und nationale indigene Rechte ignoriert werden. In der Tat entscheiden Gerichte mancherorts, dass industrielle Aktivitäten unzulässig und gesetzeswidrig sind – wie der Oberste Gerichtshof in Norwegen dies in Bezug auf den Fosen Windpark 2021 tat. Die derzeit etwa 150 und im Endausbau 300 Windräder bedrohen Rentierherden, die nicht mehr zu ihrem Futter auf den Winterweiden kommen. Rentiere stehen nicht nur für Nahrungssicherheit und wirtschaftliche Grundlage, sondern sind ein zentraler Teil der sámischen Kultur.
Die Menschen in der Arktis passen sich seit Jahrtausenden mit hochkomplexen Techniken und sozialen Praktiken den harschen Bedingungen an. Doch jetzt, mitten im rapiden und massiven Klimawandel, muss viel schneller reagiert und umgedacht werden. Viele lebensentscheidende Fragen tun sich auf, z.B.: Können traditionell ausgewiesene Gegenden zum Robbenfang noch genutzt werden, wenn in nur wenigen Jahren die Eisdecke über dem Meer unberechenbar dünn oder zu dick wird? Die Nahrungssicherheit steht auf dem Spiel und damit wird der Klimawandel zum politischen und sozialen Problem. Junge Menschen, vor allem Frauen, verlassen die Dörfer für eine Ausbildung, Jobs und vieles mehr.
Die borealen Wälder hier im Yukon, Kanada, sind von Verkehrsinfrastruktur durchzogen. Warnschild für kurvige und unbefestigte Straße zu den ‚Fish-Camps‘ der First Nation of Nacho-Nyäk Dun Familien am ‚Tekwänt’e Män‘ (‚Feuersee‘ in der Sprache der Northern Tutchone). Der nach wie vor offizielle, aber koloniale Name ist Ethel Lake. (© Gertrude Saxinger)
Die sozialen und politischen Entwicklungen in der Arktis sind längst nicht nur lokale Angelegenheiten. Der menschengemachte Klimawandel, der die Arktis sich viermal schneller erwärmen lässt als der Rest der Welt, wird durch Emissionen aus Weltregionen weit weg vom Norden verursacht. Und auch Mikroplastik und Schwermetalle, die sich in den Tieren und somit in der lokalen Nahrung festsetzen, werden an anderen Stellen des Globus in das Umweltsystem eingebracht.
Schon gar nicht zuletzt ist geopolitische, internationale Zusammenarbeit und Konfliktlösung ein zentraler Schlüssel zum Schutz von Menschen, die nur ein Teil des Umweltsystems sind. Der Arktische Rat trug solche Kooperationen zwischen den acht Arktis-Anrainerstaaten sehr solide – jedoch nur bis zum kriegerischen Einmarsch Russlands in die Ukraine, als dessen Aktivitäten vorerst eingefroren wurden.
Auch die internationalen Forschungskooperationen mit Russland liegen nun auf Eis, was nicht nur einen massiven Wissensverlust mit sich bringt und das pan-arktische Klima-Monitoring und den internationalen Datenaustausch dafür verschlechtert, sondern auch Tragödien, wenn einst gut zusammenarbeitende Kolleg:innen mit ihren Forschungspartner:innen nicht mehr offiziell in Kontakt stehen oder publizieren können.
Elch, Karibu, Lachs und Weißfisch sind im Yukon nicht nur eine wichtige Nahrungsquelle, sondern haben eine starke kulturelle Bedeutung. Der Trocknungsprozess von Fleisch und Lachs erfolgt nach genau überlieferten Techniken. Solche Subsistenzaktivitäten, meist in der Gruppe erfolgend, verbinden die Mitglieder von First Nation Gemeinden symbolisch, aber auch in ganz alltagspraktischer Hinsicht. Zum Trocknen aufgehängtes Elchfleisch. (© Gertrude Saxinger)
Im Rahmen des PolarTalk #9 erzählen Sozialwissenschafter:innen des Austrian Polar Research Institute APRI, gemeinsam mit ihren naturwissenschaftlichen Kolleg:innen, wie sie diese Entwicklungen beobachten, interpretieren, Lösungsvorschläge anstreben und vor allem die Forschungsergebnisse in die Gesellschaft und in die Politik tragen.
Das viele bereits gesicherte wissenschaftliche Wissen, aber auch das immense Wissen, das die indigene und die lokale arktische Bevölkerung seit jeher an die nächste Generation weitergibt und zur (z.B. sozialen, politischen, kulturellen oder technologischen) Anpassung an die Veränderungen der Umwelt entwickelt hat, ist gerade in (planetaren) Krisenzeiten, wie derzeit, enorm wichtig.
Wissenschaft und Gesellschaft müssen noch viel mehr verflochten werden, damit die Menschen sicher und gleichwertig weiterhin Teil der Umwelt bleiben können – rund um den Polarkreis und rund um den Globus.
Verfasst von Dr. Gertrude Saxinger
Der Vortrag ist auf Deutsch
Eintritt frei!
Bitte geben Sie an der Kasse an, dass Sie am Polar Talk teilnehmen möchten.
Wann: Mittwoch, 08.11.2023, 18:30 Uhr
Wo: Naturhistorisches Museum Wien
Polar Talks ist eine Vortragsreihe des Austrian Polar Research Institute (APRI), in der PolarforscherInnen aus den Natur- und Sozialwissenschaften in allgemein verständlicher Form über ihre Forschung in den Polarregionen berichten.