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Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 10-jährigen Jubiläum des Austrian Polar Research Institute APRI und zur Eröffnung der Sonderausstellung „Arktis. Polare Welt im Wandel“ fand im Naturhistorischen Museum der neunte Polar Talk als „Science Slam“ statt. Die Beiträge eines multidisziplinären Teams von elf APRI-Wissenschaftler*innen ergaben ein abwechslungsreiches Potpourri ihrer Forschungen und zeigten den Stellenwert von interdisziplinärer und dekolonialer Polarforschung eindrucksvoll auf.

Im neunten Polar Talk blieb kein Platz unbesetzt. ©Christoph Ruhsam (www.pure-landscapes.net).

Ein Potpourri österreichischer Polarforschung

APRI-Direktor Wolfgang Schöner von der Universität Graz eröffnete den Abend mit Neuigkeiten von der kürzlich den Medien vorgestellten, ersten österreichischen Polarforschungsstation am Sermilik Fjord im Südosten Grönlands. Sie wird zukünftig Wissenschaftler*innen aus aller Welt zu Verfügung stehen.

Der Titel des Abends illustriert die dominierenden medialen Darstellungen der Arktis, die zumeist von unberührten arktischen Landschaften und wilder Natur berichten. Dabei werden jedoch 40000 Jahre Menschheits- und Zivilisationsgeschichte der Arktis genauso wie ihre 4 Millionen Bewohner*innen oft ausgeblendet. Diese Unterrepräsentation ist gerade angesichts der tragischen teils sehr jungen Kolonialgeschichte vieler Regionen, die bis heute Traumata und Konflikte zur Folge hat, höchst problematisch. Viele der über 50 Forscher*innen im APRI fühlen sich daher der Wissenschaftskommunikation verpflichtet, um das so diverse Leben in der Arktis der interessierten Bevölkerung näher zu bringen.

Indigene Bevölkerung in der Arktis. ©Hugo Ahlenius, UNEP/GRID-Arendal (www.grida.no/resources/7009).

Kolonialismus in der Arktis

Von der Goldrausch-Ära im Yukon, als „Paradebeispiel“ für arktische Kolonialgeschichte und deren Zusammenhang mit Bergbau, erzählte Susanna Gartler, Sozialanthropologin an der Universität Wien. Dem 1896 startenden „Klondike-Goldrausch“ folgten viele Jahrzehnte des Gold- und Silberbergbaus und Abbau anderer Rohstoffe bis heute. Insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts trug sich eine allmähliche Integration von indigenen Menschen in die Marktwirtschaft und insbesondere in die Bergbauindustrie zu und viele wirtschaftliche und persönliche Verbindungen zwischen den First Nations Mitgliedern und Bergleuten von anderen Teilen Kanadas, den USA und Europas, die dort hin siedelten, entstanden. Parallel dazu fand jedoch ein staatlich-geförderter institutionalisierter kultureller Genozid an der indigenen Bevölkerung statt. Neben vielen anderen Elementen der Assimilierungsanstrengungen sind insbesondere die „Residential Schools“ im Rahmen der Verschleppung von indigenen Kindern in die Internatsschulen (durch Anwendung Polizeigewalt) zu nennen sowie Zwangsadoptionsprogramme. Der gängige Slogan der kanadischen Assimilierungspolitik lautet bis weit in das 20. Jahrhundert hinein: „Den Indianer im Kind töten“. Zudem wurde den First Nations der Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt und zu grundlegenden Rechten lange Zeit verwehrt.
Insbesondere seit den 1990er Jahren gibt es in Kanada Verbesserungen, die auf den unermüdlichen Kampf der First Nations, Inuit, Métis und ihrer Unterstützer*innen für Dekolonisierung und gegen Ausgrenzung und Benachteiligung zurückzuführen sind. Der Widerstand gegen den Kolonialismus formte sich im Yukon spätestens ab den 1970er Jahren und ab den 1990er Jahren folgten dann die ersten Landrechtsabkommen und die teilweise Umsetzung der indigenen Selbstbestimmung.

“Country Food” in Nunavut. ©Katrin Schmid.

Katrin Schmid, ebenfalls Sozialanthropologin, berichtete von ihrer Forschung zum indigenen Widerstand im kanadischen Territorium Nunavut, welcher ein weiteres Beispiel für die Kolonialgeschichte der Arktis ist. Die Bevölkerung in Nunavut ist zu 85% Inuit und das Territorium ist semi-autonom von der kanadischen Bundesregierung, wodurch die Inuit mehr Entscheidungen auf regionaler Ebene selbst treffen können als in anderen kanadischen Provinzen. Bei diesen Entscheidungen können die Inuit über den Umgang und die zukünftige Nutzung natürlicher Ressourcen mitentscheiden, was unter anderem großen Einfluss auf zukünftige Bergbauprojekte und die Fischereiindustrie hat. Subsistenzwirtschaft, also das Jagen, Fischen und Sammeln ist für die indigene Bevölkerung von großer Bedeutung. Das “country food”, also Essen, das vom Land gewonnen wird, hat einen hohen kulturellen Wert und ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Ernährung. Damit die arktischen Bewohner*innen jedoch auch angesichts einer wachsenden Bevölkerung, Tourismus, Ressourcenabbau und vor allem dem Klimawandel weiterhin lokale Ressourcen des äußerst sensiblen Ökosystems nutzen können, ist ein genaues Verständnis der Veränderungen der physischen Umwelt essenziell.

Gesellschaftliche Relevanz der Naturwissenschaften und warum insbesondere Langzeitbeobachtungen wichtig sind

Die Arktis erwärmt sich etwa 4-mal so schnell wie der Planet im Durchschnitt – so rapide wie sonst keine Region der Erde. Diese Erwärmung hat massive Veränderungen der Umwelt zu Folge. Jakob Abermann, Meteorologe und Glaziologe and der Universität Graz, erforscht die in Folge des Klimawandels schmelzenden Eismassen Grönlands und zeigt, dass durch die Schmelze des Grönländischen Eisschildes sich im Durchschnitt das Wasser von 3,5 olympischen Schwimmbäder pro Sekunde in den Ozean ergießt. Diese Veränderung in der Arktis führt global zu einem steigenden Meeresspiegel, der Millionen von Menschen in Küstennähe bedroht, auch weit weg von Grönland und arktischen Breiten.

Als sensationelle Überraschung konnten die Biolog*innen und Glaziolog*innen Birgit Sattler und Klemens Weisleitner von der Universität Innsbruck live über Video zugeschaltet werden. Sie sind gerade am „Lake Untersee“ in der Antarktis auf Feldforschung. Auch die beiden konnten davon erzählen, dass uns die polaren Breiten mehr betreffen als viele Menschen vielleicht annehmen würden. Sie erforschen vor Ort Rückstände menschlicher Aktivität in einer Landschaft, die tausende Kilometer von der nächsten Stadt entfernt liegt. So führt tauendes Eis in Polarregionen zum Meeresspiegelanstieg auf der gesamten Welt, während menschliche Spuren wie Mikroplastik selbst in entlegensten Regionen der Antarktis gefunden werden können und den Ökosystemen schaden. Zudem bekamen die Anwesenden einen eindrucksvollen Einblick in die karge und herausfordernde Welt von Polarexpeditionen. Die beiden und ihr ganzes Team schlafen vor Ort in Zelten, entsprechend steht nur gefriergetrocknete Nahrung zu Verfügung und Stürme bis 180 km/h stellen Zelte und Wissenschaftler*innen vor große Herausforderungen.

Birgit Sattler und Klemens Weisleitner per Video aus der Antarktis der Veranstaltung zugeschaltet. ©Christoph Ruhsam (www.pure-landscapes.net).

Neben schmelzenden Eismassen hat die Klimaerwärmung auch das Tauen des Permafrosts zu Folge. Permafrost ist dauerhaft gefrorener Boden und bedeckt etwa ein Viertel der nordhemisphärischen Landfläche und auf ihm leben die meisten Menschen in der Arktis. Satellitenfernerkundlerin Helena Bergstedt von der Firma und APRI Mitglied b.geos erforscht anhand von Satellitendaten wie sich die Bodentemperaturen in der Arktis verändern. Sie findet in der gesamten Arktis einen Anstieg der Bodentemperaturen, der jedoch in einigen Regionen mit bis zu 0,2°C pro Jahr stärker ausfällt als in anderen Regionen. Gerade wenn diese Erwärmung der Böden dazu führt, dass ein bestimmter Temperaturschwellenwert überschritten wird, beginnt der Permafrost zu tauen. Tauender Permafrost kann große Mengen an Treibhausgasen freisetzen und damit den Klimawandel verstärken. Das Tauen des Bodens hat aber vor allem auch für die Menschen vor Ort gravierende Folgen, zu denen Susanna Gartler forscht. Neben Verschlechterungen der Wasserqualität, gefährdet tauender Permafrost die Ernährungssicherheit und das Risiko von aus dem tauenden Boden freigesetzten Infektionskrankheiten steigt an. Erodierende Küsten und die zunehmende Instabilität von Gebäuden und Verkehrsinfrastruktur sind besonders akute Probleme für die lokale Bevölkerung. Teils müssen Gemeinden in Küstennähe bereits umgesiedelt werden.

Änderung der Permafrosttemperatur in 2 Metern Tiefe auf der Nordhemisphäre (gestrichelte Linie) und Meereisausdehnung in der Arktis (durchgezogene Linie). Verändert nach Bartsch et al. 2023.

Anhand dieser Einblicke wird zum einen klar, wie sehr das naturwissenschaftliche Verständnis der sich wandelnden Umweltbedingungen von kontinuierlichen und zuverlässigen Langzeitmessungen abhängen. Um in einem System, in dem sich die Prozesse von Jahr zu Jahr anders gestalten und variieren, wie der Schmelze des Eises in Grönland oder dem tauenden Permafrost, bedarf es zuverlässige Messreihen über Jahrzehnte, um Trends erkennen und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen zu können. Zum anderen wird deutlich, wie sehr Gesellschaften insbesondere in der Arktis in komplexer Interaktion mit der Umwelt stehen und ihre Prosperität entscheidend vom Umweltwandel und der Nutzung der natürlichen Ressourcen vor Ort abhängen. Daran zeigt sich auch, wie essenziell interdisziplinäre und transdisziplinäre Forschung ist, in der verschiedene Disziplinen kooperieren und voneinander lernen, um das Zusammenspiel von Gesellschaft und Umwelt besser verstehen zu können. Transdisziplinäre Forschung geht über den Tellerrand hinaus und bindet nicht-forscherische Stakeholder mit ein, wie lokale Gemeinden, Unternehmen, die Politik, NGOs, um aus erster Hand zu erfahren, welche Themen und Forschungsbedarfe gerade brennen und Menschen die Situation wahrnehmen. Das Aufnehmen von lokalem und indigenem Wissen in den Forschungsprozess kann somit Innovation und Nutzen der Forschung vor Ort vorantreiben.

Wie kann interdisziplinäre und transdisziplinäre Polarforschung aussehen?

Die Sozialanthropologin Sophie Elixhauser von der Universität Wien versucht im Austausch mit Schulen in Grönland zu verstehen, wie sich verändernde Schneedecken auf die lokale Bevölkerung auswirken. Für die gelingende Erforschung solcher spezifischen Interaktionen von Mensch und Umwelt ist es essentiell, der lokalen Bevölkerung auf Augenhöhe zu begegnen. Dabei gilt es die medialen Darstellungen von Bewohner*innen in der Arktis kritisch zu hinterfragen, die oftmals ein „exotisches“ Bild der Menschen vor Ort zeichnen und sie als „Opfer“ einer globalisierten Welt darstellen. Die Menschen vor Ort sind nicht viel anders als „Wir“ und können detailliertes Wissen auch zur naturwissenschaftlichen Forschung beitragen. Daher sollte der „Viktimisierung“ und „Exotisierung“ der Menschen entgegengewirkt werden und lokale Bedürfnisse und Belange sollten in gleichwertiger Partnerschaft in Forschungsprojekte eingebunden werden. Alexis Sancho Reinoso, der soziale Auswirkungen der Baikal-Amur-Magistrale Eisenbahnlinie in Sibirien untersucht, unterstreicht, dass nichts über die Bewohner*innen der Arktis medial oder wissenschaftlich veröffentlicht werden sollte, ohne dass sie daran direkt beteiligt sind: „Nothing about us – without us!“.

Um diesen Erkenntnissen entsprechend Polarforschung dekolonial zu betreiben, bringt sich das APRI wissenschaftspolitisch in diverse international relevante Gremien ein. APRI nimmt am  ICARP IV Prozess teil, in dem die international anleitenden Prioritäten in der Arktisforschung entwickelt werden. Zudem wurde kürzlich das Politikberatungspapier „Roadmap to decolonial Arctic Research“ veröffentlicht, an dem die APRI-Wissenschaftler*innen Gertrude Saxinger, Politikwissenschafterin und Sozialanthropologin und Jorrit van der Schot, Meteorologe und Glaziologe, mitwirkten. Dieses Dokument ist an große Forschungsförderungseinrichtungen, wie z.B. die EU, gerichtet und soll nicht weniger als einen Paradigmenwechsel, wie Arktisforschung methodologisch betrieben werden soll, einleiten. Dafür entscheidend ist, dass die Rolle von natur- und sozialwissenschaftlicher Forschung als Teil der dunklen Kolonialgeschichte der Arktis anerkannt wird, um Wege neuen Vertrauens zwischen Indigenen und Forschenden finden zu können. Die Forschung soll dahingehend umgestaltet werden, dass lokaler Nutzen von Projekten für die Regionen und Menschen vor Ort klar erkennbar ist. Und dass gemeinsam mit der Bevölkerung thematische Prioritäten identifiziert werden, und dass indigenes Umwelt- und Gesellschaftswissen gleichberechtigt mit westlichem wissenschaftlichen Wissen ist und ernst genommen in die Forschungsergebnisse einfließt. Zudem ist von Bedeutung, dass ökonomischer Nutzen von Expeditionen und Projekten in der Region entstehen muss, beispielsweise in dem in Forschungsprojekten lokale Arbeitsplätze geschaffen und Produkte zur Versorgung von Forschungsstationen oder Expeditionen lokale gekauft werden.

Wie können aus wissenschaftlichen Erkenntnissen gesellschaftspolitische Schlüsse gezogen werden?

Angesichts des Beratungspapiers stellt sich die Frage, wie zukünftige wissenschaftliche Projekte konkret aussehen können und wie aus transdisziplinärer Polarforschung gesellschaftliche Schlüsse gezogen werden können.

Peter Schweitzer, Sozialanthropologe, erforscht im InfraNorth Projekt den Zusammenhang zwischen bestehenden und geplanten arktischen Transportinfrastrukturen und dem Wohlergehen lokaler Gemeinden. Dabei werden vielseitige Feldforschungsmethoden wie informelle Gespräche, Expert*inneninterviews und Listening Sessions in verschiedenen arktischen Gemeinden durchgeführt. Eine besondere Methode stellen dabei Szenarienworkshops dar, die bereits in Kirkenes (Nordnorwegen) und in Churchill (Manitoba, Kanada) stattgefunden haben. Dabei werden vier lokale Szenarien für die zukünftige Entwicklung der Ortschaft geschaffen, die von lokalen Künstler*innen illustriert werden. Jeweils ein ausgerichteter Workshop richtet sich gezielt an lokale „Professionals“, die berufliche Bezüge zum Inhalt haben und ein weiterer Workshop ist für allgemein interessierte Teilnehmen*innen gestaltet.

Illustration des Szenarios “Industrial Town” gezeichnet von Anja Eline Danielson aus Kirkenes für den InfraNorth Szenarien Workshop in Kirkenes. Es gibt zwar viel Industrie und Transportinfrastruktur (auch Windräder), aber die Saami-Person verlässt die Stadt unter Protest.

Die bisherigen Erfahrungen mit den Workshops waren sehr positive. Die lokale Bevölkerung schien es sehr wertzuschätzen, dass allen gleichermaßen zugehört, dass ihre Belange ernst genommen und ihren Unsicherheiten für die Zukunft Raum gegeben wurde. Das InfraNorth Projekt zeigt, wie transdisziplinäre Wissenschaft in der Bevölkerung an Vertrauen gewinnen kann, wenn es gelingt in Kooperation und in gleichrangigem Austausch mit der lokalen Bevölkerung Erkenntnisse zu generieren.

Das abwechslungsreiche Programm des Abends gab mannigfaltige und spannende Einblicke in die Welt der (österreichischen) Polarforschung. Es wurde im Besonderen deutlich, dass uns die Polargebiete im globalisierten Zeitalter nicht zuletzt mit globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel auch in Österreich erheblich betreffen und uns dadurch auch etwas angehen; und es sich nicht um Probleme einer Region weit weg handelt. Das Streben nach und die Aussicht auf verstärkt transdisziplinäre wissenschaftliche Kooperation macht jedoch Hoffnung, dass Politik und Gesellschaft durch die Wissenschaft verändert werden können.

Medieninformation

Verfasst von Jonathan Fipper, Mitarbeit Gertrude Saxinger.
Satz und Layout durch das APRI-Media Team.
Kontakt: Nützen Sie unser Kontaktformular.

Über die wissenschaftlichen Autoren

Jakob Abermann Ass.-Prof. (Universität Graz)
Helena Bergstedt PhD (b.geos)
Sophie Elixhauser PhD (Universität Wien)
Susanna Gartler (Universität Wien)
Alexis Sancho Reinoso PhD (Universität Wien)
Birgit Sattler Priv.-Doz. (Universität Innsbruck)
Gertrude Saxinger PhD (Universität Wien)
Katrin Schmid (Universität Wien)
Wolfgang Schöner Prof. (Universität Graz)
Peter Schweitzer Prof. (Universität Wien)
Klemens Weisleitner PhD (Universität Innsbruck)

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  • Barbara Hinterstoisser sagt:

    Es war ein hervorragender einblick in Eure Forschungsaktivitäten und ein ein gelungenes relativieren der romantischen Vorstellungen manchen „Polartouristen“