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Der lange Weg nach oben

Von Gernot Resch

„Auf Wiedersehen, Zackenberg!“ bedeutete auch „Auf Wiedersehen, Sonne!“ für unsere Zeit am Zeltplatz, da er bis auf die frühen Nachtstunden und einige Zeit am Nachmittag im Schatten der umliegenden Berge lag. In Kombination mit dem ständigen kalten Wind aus dem Inneren des Tales war es deutlich ungemütlicher als auf der sonnigen, grünen Ebene rund um Zackenberg.

In den nächsten Tagen verließen wir üblicherweise unser Zelt um etwa 10:00, nach einem warmen Porridge und dem täglichen „Wir leben noch immer“ – Anruf bei der Station mittels Satellitentelefon. Unsere Rucksäcke waren schwer, meistens zwischen 25 – 30 kg, manchmal auch schwerer. Um den langen Weg zu unserem Arbeitsplatz auf dem Gletscher leichter zu machen, unterteilte ich ihn in mehrere Teile: etwa eine halbe Stunde zu den Moränen im Tal, gefolgt von 1 1/2 Stunden durch die Moränenlandschaft zur Gletscherzunge und dann etwa 2 Stunden bis zur Wetterstation auf dem Gletscher. Obwohl der letzte Teil der längste war, hatte man nach dem Betreten von Freyas Eis und den ersten knirschenden Schritten auf der steilen Gletscherfront sofort das Gefühl, schon fast da zu sein. „Nur mehr ein paar Minuten gehen, nur mehr ein paar kleine Sprünge über Gletscherspalten und Bäche am Eis“. Ich liebe das Geräusch von knirschendem Eis unter den Steigeisen. Es hat etwas Meditatives und die Gedanken treiben dahin.

Der flache Bereich im Tal vor den Moränen war hübsch: Sand, kleinere Polsterpflanzen und Moose, und Leben. Das Gehen auf den rutschigen Steinen neben dem Gletscherbach, auf steilen und heiklen Schneefeldern oder eine leichte, kurze Kletterei über größere Felsen direkt neben dem wilden Bach waren der interessanteste Teil der Wanderung, speziell wegen der schweren Rucksäcke. Gernot Weyss kannte das Gelände schon von seinen Besuchen in den Jahren zuvor, aber dieses Jahr waren wir zwei Wochen früher als üblich vor Ort. Das sanfte Bächlein, das er kannte, war noch ein wilder, vier Meter breiter Wildbach, neben dem wir unseren Weg nach oben suchten. Kalte katabatische Winde vom Gletscher und das kalte Wasser neben uns machten diesen Teil zum kühlsten. Nach einigen Kilometern vorsichtigen Gehens erreichten wir Freyas steile Front. Endlich richtiger Boden, um darauf zu gehen!

Feldarbeit (Musik von Valve Software, Composer: Kelly Bailey. Bilder: Gernot Weyss, Gernot Resch).

Die nächsten 6 Kilometer bis zum flachen Bereich, an dem wir die automatische Wetterstation errichteten, gingen wir auf dem Eis. Auf dem Weg dorthin passierten wir mehrere ins Eis gebohrte Ablationspegel. Jeder ist mit buntem Tape markiert, damit man schnell erkennen kann, wieviel davon noch im Eis ist. Jedes Mal, wenn wir bei einem vorbei kamen, machten wir einen kurzen Stopp und notierten die exakte Position und Ablation. Während der kurzen, warmen Sommermonate hat Freya eine recht hohe Abschmelzrate, 10 cm pro Tag waren keine Seltenheit.

Gernot Weyss hatte 2008 bis 2012 jedes Jahr mindestens zwei Wochen jedes Sommers auf Freyas Eis verbracht, also kannte er sie (ja, Freya ist ein sanfter, weiblicher Gletscher) recht gut. Er wusste, wo man ohne Bedenken hingehen kann und welche Bereiche man eher meiden sollte. Die gefährlichsten Gletscherbereiche im Sommer sind wahrscheinlich jene, die unter einer weißen Schneeschicht verborgen sind. Sofern möglich, sollte man sie entweder überspringen oder generell meiden, da man nie weiß, ob sich darunter solides Eis oder eine 10 m tiefe Spalte verbirgt. In den flachen Bereichen des oberen Teils befanden sich keine Spalten mehr, sondern Teiche, gefüllt mit Wasser und Eis. In den kühlen Stunden der Nacht fror ihre Oberfläche zu und man konnte sie vorsichtig überqueren. Während des Tages mied man sie besser, weil man nie wusste, ob sie nur wenige Dutzend Zentimeter oder einen Meter tief waren.

Wir benötigten etwa vier Stunden, um unseren Arbeitsplatz zu erreichen, einen Bereich den Glaziologen „Aufeis- und Versickerungszone“ nennen. Bis hierher trugen wir einen 4 m langen Mast aus Aluminium, unterschiedliche Sensoren zum Messen von Windgeschwindigkeit, Eis- und Lufttemperatur, Strahlung, Luftfeuchtigkeit und mehr. Nach dem Errichten des Mastes konfigurierte Gernot die Sensoren und ich half ihm dabei, las Ablationspegel im Akkumulationsbereich ab oder sammelte Wasser zum Kochen aus den Eistümpeln.

„Dies war unsere Belohnung für den langen Weg: Ein heißer Topf, gefüllt mit Nasi Goreng oder Jägergulasch, gefolgt von einer Tafel Schokolade pro Person.“

Gernot Resch

Die Belohnung nach einem langen Arbeitstag (Gernot Resch).

Aber nicht nur die Schokolade war wichtig, sondern auch das Plastiksackerl einer österreichischen Supermarktkette, in dem wir sie aufbewahrten: Man konnte darin Dinge verstauen, es war stabil und reißfest und, besonders wichtig, man konnte es auch als trockenen Sitzplatz benutzen. Wegen des langen Aufstieges versuchten wir immer, möglichst viel Zeit oben zu verbringen und kamen erst spät, gegen 5 Uhr Früh zu unserem Zelt zurück, wo wir sofort in unseren Schlafsäcken einschliefen.

Eine sehr menschliche Sache

Das Wetter war perfekt: Keine Wolken, keine Schneestürme, kein Nebel, nichts außer Sonnenschein. Alles war gut, vielleicht zu gut. Nach einigen Tagen passierte eine äußerst menschliche Sache in unseren Köpfen: Zuerst ist man glücklich, dass man bekam, was man sich wünschte. Aber nach einiger Zeit gewöhnt man sich daran, und der Frohsinn wechselt zu der Sorge, dass man verlieren könnte, was man hat, dass alles schlechter wird. Und von diesem Augenblick ist es nicht mehr wie zuvor, man kann es nicht mehr so genießen. Bei uns passierte das mit dem Wetter. Zuerst waren wir so froh, keine Stürme und gute Bedingungen zu haben. Aber als nach einigen Tagen kleine Wolken über den Bergspitzen auftauchten, sahen wir sie mit leichter Sorge an, so als ob sie Heralde eines möglichen Sturms wären, der sich in unsere Richtung bewegte. Was wäre, wenn es ab morgen Regen und schlechtes Wetter gäbe? Es dauerte eine Zeit, bis wir realisierten, was mit uns geschah. Wir lachten zwar gemeinsam darüber und versuchten die Gedanken zu verscheuchen, aber weit hinten in unseren Köpfen blieben diese Bedenken. Sie warteten dort, bis die Wetterstation nach einigen Tagen endlich fertig aufgestellt war und alles funktionierte. Bis alle Instrumente getestet, alle Messungen mit dem Georadar und für die Massenbilanzberechnung  erledigt waren und der erste Teil unseres Aufenthaltes auf Clavering Island, wo Freya lag, abgehakt werden konnte.

„Manchmal ist zu gut eben nicht gut.“

Gernot Resch

Gletscher Elvis aus dem Weltall

Nach einer Woche auf der Insel war alles erledigt, was wir uns vorgenommen hatten. Mit leichten Herzen und leeren Rucksäcken  gingen wir um 6 Uhr früh zurück zum Camp, wissend, dass der erste Teil unseres Aufenthaltes zu einem Ende gekommen war. Am Weg nach unten kamen wir wie jedes Mal an einem etwas seltsamen Phänomen vorbei, einer etwa 150 x 100 x 10 m Eintiefung, wo das Eis auf der linken Seite des Gletschers geschmolzen war. Dieses Mal blieben wir stehen und begannen, Vermutungen über den Ursprung aufzustellen. Am Ende kamen wir zum Schluß, dass der unwahrscheinlichste Fall war, dass warmes Schmelzwasser der Berghänge sich an dieser Stelle gesammelt hatte, eine Höhle geformt und diese dann eingestürzt war. Der wahrscheinlichste Fall aber war unserer Meinung nach, dass ein UFO seit langer Zeit im Eis eingefroren war, wegen des Klimawandels aufgetaut und weggeflogen war.

„Wir stellten uns vor, wie plötzlich ein Raumschiff direkt neben uns landete, sich die Türen öffneten, Dampf und Elvis mit seinen 150 kg herauskamen. Er trug einen schimmernden, glitzernden weißen Anzug und tanzte auf Freya, feierte mit uns die erfolgreiche Errichtung der Wetterstation.“

Gernot Resch

Wir ließen Elvis hinter uns und setzten unseren Weg nach unten fort. Nachdem wir das Zelt abgebaut und die gesamte Ausrüstung zurück zur Küste gebracht hatten, saßen wir mit einem dicken Grinsen, Schokolade und den letzten Schlucken Nussschnaps meiner Großmutter an der Küste und warteten auf das Boot, das uns mit der Morgenflut abholen sollte. In etwa einer Woche würden wir zurückkehren, noch einige Messungen vornehmen und die Station winterfest machen. Für einen kurzen Augenblick stoppte der Wind und nur die Wellen rollten langsam ans Ufer. Ein Gedicht aus der Bibliothek in Zackenberg kam mir in den Sinn:

Die Geräusche der Arktis

werden Stimmen aus der Tiefe,

sie erzählen von der endlosen Zeit.

Wo doch wir Menschen

nur Gäste für einen kurzen Augenblick sind.

Zurück auf der Station ging ich zum Küchenhaus für ein Frühstück. Lone, unsere Köchin, stand dort und hörte Elvis‘ Rock’n Roll. Das Leben bietet mehr als man manchmal vermutet!

Aufeis auf Freya

Später, zurück in Österreich, nutzte ich die gesammelten Daten dieses Jahres und der folgenden Saisonen für meine Untersuchungen über die Bildung von Aufeis. Die Ergebnisse zeigten, dass sich jedes Jahr etwa 10 – 15 cm davon zwischen Juni und Juli in der Akkumulationszone bildeten, was einem Beitrag von 6 – 9 % zur Massenbilanz entspricht. Es bedeutete auch, dass im Vergleich zu anderen Gletschern Aufeis nur eine kleinere Rolle auf Freya spielt und bei unseren gemessenen Ablationsraten in etwa zwei Tagen geschmolzen ist.

„Aber wenn man diese Ergebnisse in einem größeren Zusammenhang sieht, sind sie ein weiteres kleines Puzzlestück, das uns hilft, die Natur ein wenig besser zu verstehen, und im Endeffekt ist das doch das Ziel jeder Forschung.“

Gernot Resch

Bernhard Hynek und Daniel Binder installierten zwei Jahre später zwei Webcams, die aktuelle Bilder von Freya zeigen und frei zugänglich sind:

Freya1
Freya2

Ein Zeitraffervideo von Freyas schmelzender Oberfläche (ZAMG).

Medieninformation

Verfasst von Gernot Resch.
Redaktion und Layout vom APRI-Medienteam.
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Fotos: Wenn nicht anders angegeben: © Gernot Weyss

Über den wissenschaftlichen Autor

Gernot Resch, Universität Graz, Österreich
Zugriff auf die Master thesis