Im Rahmen der Voreröffnung der österreichischen Polarforschungsstation Sermilik in Ostgrönland gab es auch ein soziales Programm, um die lokalen Politiker, Personen aus der Wirtschaft und die Bevölkerung von dem Projekt zu informieren. Die nachhaltige Verankerung der Bevölkerung mit dem Forschungsbetrieb in ist ein essentielles Prinzip des Projektes.
Meeting mit Personen aus Politik und Wirtschaft
Am 7.9.2023 traf sich die Voreröffnungsdelegation von der UNI Graz, dem APRI, österreichischen Medien und dem Finanzier Christian Palmers mit Personen der Gemeindevertretung. Tasiilaq ist das Verwaltungszentrum an der tausende Kilometer langen Ostküste Grönlands, die nur sehr spärlich besiedelt ist. Es gibt 5 weitere Siedlungen (Isortoq, Kulusuk, Kummiut, Sermiligaaq, Tiniteqilaaq), die gemeinsam mit Tasiilaq ca. 2700 Einwohner zählen. 800 km nördlich liegt noch Ittoqortoormiit mit einer abnehmenden Bevölkerungsanzahl von weniger als 400 Personen. Beide Siedlungsgebiete liegen im Bezirk Sermersooq, unter der Verwaltung der grönländischen Hauptstadt Nuuk, die von Tasiilaq 650 km weit entfernt, getrennt durch das 2000 – 3000 m dicke grönländische Inlandeis, an der Westküste liegt. Das ist nicht unbedingt eine gute Voraussetzung für eine Verwaltung, die die Bedürfnisse der Einwohner kennen und darauf eingehen soll.
Der Distrikt Ammassalik (© Google Maps)
Wir wurden in den Sitzungsraum des Gemeindegebäudes von der Bezirkshauptfrau Hjørdis Viberg eingeladen. Der UNI-Graz-Rektor, Dr. Peter Riedler, und der Initiator und Leiter des Forschungsstationsprojektes, Prof. Wolfgang Schöner, präsentierten die Aufgaben und Ziele des neuen Stationsgebäudes. Gemeinsame Sprache war Englisch, das ins Dänische übersetzt wurde, um alle Personen im Raum zu erreichen.
Erwartungen der lokalen Bevölkerung
Man zeigte sich ausgesprochen aufgeschlossen für die dargestellten Aktivitäten und nahm das Projekt mit dem ganzheitlichen Forschungsansatz unter Einbindung der lokalen Bevölkerung sehr positiv auf. Es besteht z.B. Interesse an Forschungen im Bereich Fischbestand, denn im kommenden Jahr soll eine lokale Fischfabrik gebaut werden. Auch der Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die kalten Fallwinde – auf Grönländisch „Piteraq“ – die mit 200 – 300 km/h vom Inlandeis im Westen in das Fjordsystem einfallen können, ist von großer Bedeutung für die lokale Bevölkerung, weil diese durch ihre enorme Energie eine große Gefahr für Hab und Gut darstellen. Werden diese durch den Klimawandel häufiger und stärker?
Die lokale Schule für die Kinder bis zum 10. Schuljahr soll eingebunden werden, um anschaulich wichtige Themen wie Ökologie, Klimawandel und nachhaltiges Wirtschaften zu vermitteln. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, den Unterricht interaktiv zu gestalten. Auch Schüler aus den westlichen Siedlungen in Grönland sollten davon profitieren, anstelle, dass Kinder aus Tasiilaq zur Weiterbildung nach Westgrönland gesendet werden. Das wäre eine wichtige Anerkennung für Ostgrönland, das unter einem West-Ostgefälle innerhalb der grönländischen Gesellschaft leidet. Viele Schüler kommen nach einer höheren Ausbildung in Nuuk oder außerhalb von Grönland nach Tasiilaq zurück, finden aber keine Möglichkeit, das erworbene Wissen einzusetzen.
Die Fähigkeiten der lokalen Bevölkerung können im Bereich Logistik, Handwerksaufgaben, teilweise Stationswartungsaufgaben und auch für Messungen im Rahmen von Citizen Science eingebunden werden. Einer der Bezirksvertreter sagt: „Die meisten Wissenschaftler kommen nach Grönland, um zu forschen und sagen, ohne die lokale Bevölkerung über Ihre Aktivitäten zu informieren und an den Froschungsergebnissen teilhaben zu lassen, rasch wieder ‚good bye‘ “. Er drückt aus, dass es außergewöhnlich und sehr erfreulich ist, dass im Sermilik-Projekt die lokale Bevölkerung so stark eingebunden werden soll. In der ostgrönländischen Gesellschaft hilft jeder mit seinen Fähigkeiten jedem, auch wenn man manchmal als Konkurrent agiert. „Wenn Hans krank ist, hilft Jens aus“, das ist die soziale Grundlage der Zusammenarbeit, die auch dem Stationsbetrieb zugutekommen kann. Wolfgang Schöner streicht hervor, dass Forschungsprojekte in Kanada nur mehr unter Einbindung und Billigung der Bevölkerung durchgeführt werden können. Das Snow2Rain Projekt des APRI setzt diesbezüglich seit 2020 erste Akzente.
Wir äußern, dass wir in Tasiilaq und auch in den umliegenden Siedlungen ein großes Problem bei der Abfallentsorgung sehen. Einer der Bezirksvertreter stimmt sofort zu, dass es dazu Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung erfordert, kombiniert mit Anstrengungen der Regierung für ein Entsorgungssystem. Wir finden selbst in entferntesten Fjorden Müll am Strand, der besonders in Siedlungsgebieten ein wirkliches Problem darstellt. Von den Schlittenhunden wird er bei deren Lagerplätzen gefressen. Plastik verbleibt Jahrzehntelang in der Umwelt, wird vom Wind vertragen und gelangt nach einem lange andauernden Zerkleinerungsprozess als Mikroplastik in die Nahrungskette, wodurch es bis in Körperzellen von Lebewesen eindringen kann. Der Erforschung der Plastikverteilung in der Arktis ist das Microplastics-Projekt der Universität Innsbruck gewidmet.

Moderne Häuser in Tasiilaq (© Christoph Ruhsam)
Die geplante Fischfabrik in Tasiilaq, die ev. 2024 den Betrieb aufnehmen könnte, würde die Ergebnisse aus der Forschung über marine Ökologie nützen können. Es sollen keine Trawler zum Einsatz kommen, sondern die Fischfabrik soll den lokalen Fischern als Absatzquelle dienen. Es gibt viel Fisch in der Umgebung von Tasiilaq, was wir im Rahmen der Exkursion zum Hann Gletscher erleben konnten: Für das Mittagessen der Gruppe reichte es, einen Angelhaken nicht mehr als 5 Minuten vom Boot ins Meer hängen zu lassen, um hintereinander drei große Kabeljaue zu fangen!
Arbeit in den ostgrönländischen Siedlungen gibt es vor allem in der Verwaltung, um die erforderlichen Dienstleistungen für die Gemeinschaft durchführen zu können. Tourismus bietet vor allem im Sommer Arbeit im Bereich Logistik, gibt den Jägern Aufgaben als Guides oder bietet die Möglichkeit Unterkünfte zu vermieten.
„Die meisten WissenschaftlerInnen kommen nach Grönland, um zu forschen und sagen, ohne die lokale Bevölkerung über Ihre Aktivitäten zu informieren und an den Froschungsergebnissen teilhaben zu lassen, rasch wieder ‚good bye‘. Der Ansatz des Sermilik-Projektes mit Integration der lokalen Bevölkerung ist außergewöhnich und sehr erfreulich.“
Tasiilaq Bezirksvertretung
Soziale Probleme
Hjørdis Viberg nennt als größtes Problem den beengten Wohnraum der Familien. Häufig leben 2-3 Generationen zusammen in einem der bunten Holzhäuser. Es kommt zu Spannungen und wegen des Alkoholkonsums zu Gewalt und Missbrauch. Fast die Hälfte der Bevölkerung hat das eine oder andere schon erfahren. Die Suizidrate ist besonders bei Jugendlichen sehr hoch. Auf dem Friedhof finden wir bei den mit bunten Plastikblumen geschmückten Gräbern immer wieder Fotos von lachenden Jugendlichen, ein Handy in der Hand, als ob sie mitten in einem erfüllten Leben stünden. Als wir am Abreisetag zu Fuß zum Bootsanleger gehen, fährt ein Pickup-Wagen vorbei, auf dessen Ladefläche ein weißer Sarg liegt. In der Ferne erkenne ich den Friedhof und einen Kleinbagger, der ein Loch gräbt … Das stimmt uns sehr nachdenklich und wir besprechen die Situation mit der Dänin Line, die im lokalen Tourismus sowie in sozialen Projekten tätig ist. Es gibt Hoffnung, aber die Arbeit ist von Rückschlägen geprägt. Die Familienbande, die so viel Gutes für den Zusammenhalt der Inuit-Gesellschaft bewirkten, sind in Bezug auf die Änderungsmöglichkeiten im Leben der Kinder und Jugendlichen jedoch eine Einschränkung, deren Leben eigenständiger zu gestalten.
Für dieses Jahr war der Bau von 30 neuen Apartements von der Regierung zugesagt. Umgesetzt wurde kein einziger. Die dafür vorgesehenen Gelder wurden auf politischer Ebene auf mehrere Gemeinden, oft auch in Westgrönland, verteilt. Argumente wie: „Warum bekommt ihr so viel? Wir brauchen auch etwas davon“, führen dazu, dass am Ende oft wenig oder nichts umgesetzt wird. Alle wollen für eine bessere Zukunft arbeiten. Trotzdem gibt es nur kleine Erfolge. Ob die Wohnungen wohl nächstes Jahr gebaut werden? Man glaubt nicht wirklich daran, obwohl ein verbesserter Lebensstandard einen wichtigen Teil zur Lösung der Probleme darstellt. Der Unterschied zw. gutem und schlechtem Leben ist sehr schmal. Schnell kann hier jemand zum Sozialhilfeempfänger werden und ohne einen positiven Lebensinhalt in einen Teufelskreis stürzen. Man lebt in einer engen Gesellschaft, alles ist sehr sichtbar.
Auch ein guter Internet-Zugang für alle ist wichtig, damit über die weiten Entfernungen Kontakt gehalten werden kann. Die Regierung verspricht mehr Unterstützung. Man wird sehen, was wirklich umgesetzt werden wird.
Diskussion mit der Bevölkerung
Abends war die ganze Bevölkerung von Tasiilaq ins Community-House eingeladen, um Informationen über das Projekt zu erhalten. Insgesamt kamen 40 Personen. Rektor Riedler und Wolfgang Schöner präsentierten auf Englisch die Eckpunkte und Forschungsschwerpunkte des Projektes. Übersetzt wurde ins Dänische sowie ins Ostgrönländische. Es gab vor allem von den dänischen Personen, die im Bereich Bildung und Soziales in Tasiilaq arbeiten, interessierte Fragen, die an den Vormittag anknüpften. Der Bogen spannte sich von der Idee zu einer Website der Forschungsstation mit aktuellen Informationen zu den Forschungsaktivitäten bis hin zur Einbindung der Station in den Schulunterricht. Ein Lehrer, der einen geologischen Ausbildungshintergrund hatte, regte Exkursionen zur Station an. Anschaulicher kann naturwissenschaftlicher Unterricht nicht sein!
Kurzvideo des Gemeindetreffens (© Christoph Ruhsam)
Den Abschluss des Programms bildete die Übergabe eines Gastgeschenks in Form eines Solarzellenrucksacks vom Rektor an die Bezirkshauptfrau. Als Gegengeschenk durften wir uns an 3 Liedern erfreuen, die von einem Teil des Tasiilaq-Chores vorgetragen wurden: Ein Klagelied einer Siedlung über den Verlust seiner Bevölkerung, ein traditioneller Trommeltanz zur Konfliktlösung bei Streitigkeiten und ein Lied über die Schönheit der grönländischen Natur. Wir waren berührt und verbrachten nach Gesprächen bei Tee und Kaffee den Abend in der lokalen Bar, die uns neben interessanten Gesprächen auch wieder die Schattenseiten des Alkoholkonsums hautnahe erleben ließ. Grönland ist so groß und weit. Die Ostgrönländische Bevölkerung wurde innerhalb von ca. 130 Jahren – das sind nur etwa 4-5 Generationen – aus einem Nomadenleben in die Moderne katapultiert. Vieles wird sich ändern müssen, um die Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Erste Schritte sind gesetzt, aber es wird vor allem an der Jugend liegen, daraus etwas Eigenständiges zu machen, um nicht unterzugehen. Wir haben viele lachende Kinder gesehen. Jedes hat die Chance, etwas Neues und Positives zu schaffen. Möge es ihnen gelingen!

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Verfasst von Christoph Ruhsam, APRI Media Officer.
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Fotos, Video: © Christoph Ruhsam, www.pure-landscapes.net
Andere Berichte
Website der Forschungsstation: sermilik-station.uni-graz.at
Bericht der Universität Graz.
Andere Medien:
Science.orf: Ein sicherer Hafen für die Grönlandforschung
Kleine Zeitung: Graz ist ab sofort in Grönland dem Klimawandel auf der Spur
Kurier: Warum Herr Palmers der Uni Graz eine Polarstation finanziert hat
News: Österreichs Polarstation in Grönland
APA-Science: Österreicher errichten Forschungsstation in Ostgrönland
standard.at: Österreichische Forschungsstation in Grönland gebaut
ORF Ö1: Polarforschung, Chemikalien, 15.09. | Ö1 | ORF-Radiothek