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Tauchgänge in die Tiefen des arktischen Ozeans

Die Tiefsee ist das größte Ökosystem auf unserem Planeten, dennoch wissen wir noch wenig über sie. Besonders die Tiefen des arktischen Ozeans sind aufgrund logistischer Herausforderungen (Distanz, Meereis) noch wenig beforscht. Die nun in Frontiers in Marine Science veröffentlichte Studie von Irina Zhulay und KollegInnen gibt neue Einblicke in die Lebensgemeinschaften auf dem arktischen Meeresgrund. 

Das "Chukchi Borderland"

Obwohl es sich eindeutig um eine Meeresregion handelt, wird der Bereich vom Schelfrand der Tschuktschensee bis in das tiefe Kanadische Becken im Englischen das „Chukchi Borderland“ genannt. Wassermassen aus dem Arktischen Ozean, dem Pazifik und dem Atlantik mischen sich über dem Kontinentalhang, der hier von etwa 300 bis 3000 m Tiefe reicht. Es ist eine jener arktischen Regionen, die den stärksten saisonalen Meereisrückgang der letzten 20 Jahre aufweist. Prognosen über die Auswirkungen dieser Umweltveränderungen auf das marine Ökosystem waren bis dato schwierig, da man nur wenig über die Lebensgemeinschaften in diesem Gebiet wusste. Im Sommer 2016 stach ein internationales und interdisziplinäres Team von WissenschaftlerInnen, JournalistInnen und PädagogInnen an Bord des U.S. Eisbrechers Healy in See, um das zu ändern. Ziel der Expedition namens „The Hidden Ocean 2016“ war die Erforschung des marinen Lebens im Chukchi Borderland, von der Meeresoberfläche bis hinunter zum Grund der Tiefsee. Irina Zhulay war eine der ExpeditionsteilnehmerInnen innerhalb der Forschungsgruppe von Katrin Iken (Universität Fairbanks), die sich mit dem Leben auf dem Meeresgrund befasste. Irinas Fokus war die Erforschung der sogenannten Epifauna, also jener größeren Tiere, die direkt auf, oder nahe dem Meeresboden leben.


Die Karte der Arktis zeigt sowohl die Tschuktschensee („Chukchi Sea“), als auch das angrenzende Meeresgebiet namens „Chukchi Borderland“. © Wikipedia, bearbeitet von Caitlin Bailey.

Das ROV

Zur Erforschung der Tiefsee benötigt man so einiges an Spezialgerät, wie zum Beispiel ein ferngesteuertes Unterwasserfahrzeug, oder kurz ROV (Remotely Operated Vehicle). Das ROV steht mit einem Kontrollzentrum auf dem Schiff in Verbindung und wird von dort aus von einem Piloten gesteuert. Das ROV ist unter anderem mit einem Kamerasystem ausgestattet, dadurch können die WissenschaftlerInnen im Kontrollzentrum den Meeresgrund in Echtzeit beobachten. Die Bilder werden aber natürlich auch aufgezeichnet und können später exakt ausgewertet werden. „Das ROV ist ein großartiges Gerät“ schwärmt Irina. „Es ermöglicht uns nicht nur, die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung zu sehen, sondern auch ihr Verhalten zu beobachten, ihre Interaktionen mit anderen Tieren und mit ihrer Umwelt.“

Und das beschreibt schon den Kern von Irinas Forschung: „Nicht nur die Frage, wer ist da ist wichtig, sondern auch die Frage, was die da machen. Wie finden die Tiere z.B. ihre Nahrung? Wie bewegen sie sich?“ Diese und andere Artmerkmale werden im Englischen als „traits“ bezeichnet.

Links und Mitte: Einsatz des ROV ©Irina Zhulay. Rechts: Die Nachtbildaufnahme aus dem ROV-Kontrollzentrum zeigt den ROV-Piloten Joe Caba sowie die begeisterten Gesichter der Wissenschaftlerinnen Katrin Iken, Lauren Sutton und Kelly Walker, als sie Life-Bilder vom Meeresgrund empfangen. ©Caitlin Bailey, GFOE, The Hidden Ocean 2016: Chukchi Borderlands.
Ein Interview mit Joe Caba, dem ROV-Betreuer (remotely operated vehicle) auf der Arktisfahrt (©GFOE, The Hidden Ocean 2016: Chukchi Borderlands, Oceaneering-DSSI).

Anhand der Zusammenfassung der „Traits“ genannten Eigenschaften aller 106 Arten, die Irina an ihren Probenstellen verzeichnet hat, kann sie ein funktionelles Profil der Lebensgemeinschaften auf dem Meeresboden erstellen. Dieses Profil kann dann wiederum mit einem statistischen Verfahren, der sogenannten biologischen Merkmalsanalyse (Biological Traits Analysis, oder kurz BTA) ausgewertet werden. Zum Beispiel wird so die funktionelle Diversität und die funktionelle Redundanz ermittelt. Besonders die Redundanz – eine Maßzahl, in welchem Grad die Organismen in einer Gemeinschaft die gleichen Merkmale aufweisen – ist von Interesse, da sie Rückschlüsse auf die Stabilität einer Gemeinschaft erlaubt.

Links: Federstern (Crinoidea). Mitte: Aalmutter (Lycodes frigidus). Rechts: Asselspinne (Pycnogonida). Alle Bilder ©The Hidden Ocean 2016: Chukchi Borderland, Oceaneering-DSSI.

Die Baumkurre - ein wissenschaftliches Grundschleppnetz

Das ROV ist in der Lage, alle von Irinas Probenstellen – die in Tiefen von 480 bis 2610 m liegen – zu erreichen. Es ist jedoch mitunter schwierig, alle Tiere auf den ROV Bildern abzubilden und schließlich auch zu identifizieren. Manche Organismen nehmen die Bewegung des Unterwasserfahrzeuges schon früh wahr und flüchten, andere vergraben sich rasch im Sediment. Um wirklich einen guten Überblick über die gesamte Tiefseegemeinschaft zu bekommen, wird daher noch zusätzlich eine Baumkurre eingesetzt. Die Baumkurre ist ein Grundschleppnetz, das für etwa 30 Minuten über den Meeresgrund gezogen wird. Dadurch können auch jene Tiere, die mit dem ROV vielleicht übersehen wurden, an die Oberfläche geholt und identifiziert werden.

Links: Ausbringen der Baumkurre (©Irina Zhulay, UAF, The Hidden Ocean 2016: Chukchi Borderland). Mitte: Irina (ganz rechts) und KollegInnen beim Aussortieren der Tiere, die mit der Baumkurre gesammelt wurden (©Lauren Sutton, UAF, The Hidden Ocean 2016: Chukchi Borderland). Rechts: Einige der mit der Baumkurre gesammelten Tiere (©Irina Zhulay UAF, The Hidden Ocean 2016: Chukchi Borderland).

Traits-Datenbanken

Andere wichtige Traits, wie zum Beispiel die Art der Fortpflanzung einer Tierart oder der Verbreitungsmodus der Larven, können nicht so einfach von Fotos oder auch von den gesammelten Tieren selbst abgelesen werden. Solche Informationen holt sich Irina dann aus der Literatur und aus Datenbanken wie der „Arctic Traits Database“ (Degen & Faulwetter 2019). Letztere ist eine an der Universität Wien gehostete, frei zugängliche Online-Plattform, die zahlreiche Informationen zu arktischen Meerestieren zur Verfügung stellt.

Die Verbreitung solcher Trait-Informationen ist ein Schlüsselfaktor in diesem Forschungsgebiet: „Da so wenig über dieses Ökosystem bekannt ist, ist es sehr wichtig, alle unsere Beobachtungen zu teilen“, betont Irina, die selbst schon etliche Beiträge zur „Arctic Traits Database“ geleistet hat.

Ein sensibles Ökosystem

Nachdem das funktionelle Profil der Gemeinschaft aus den Daten von ROV, Baumkurre und Datenbanken erstellt und ausgewertet war, konnte Irina interessante Erkenntnisse gewinnen. „Einige unserer Ergebnisse stimmen mit dem Bild überein, das man global von der Epifauna der Tiefsee hat. Andere jedoch deuten auf eine höhere Vulnerabilität der Gemeinschaften im Chukchi Borderland hin“, fasst Irina zusammen. „Im gesamten Untersuchungsgebiet haben wir viele Arten verzeichnet, die in allen Entwicklungsstadien eine geringe Ausbreitungsfähigkeit aufweisen.“ Die Ausbreitungsfähigkeit beschreibt die Möglichkeit einer Art, sich von einem Standort zu einem anderen zu bewegen. Manche Tiere können sich zum Beispiel durch Schwimmen oder Krabbeln fortbewegen, wo hingegen andere eine festsitzende Lebensweise haben. Die Larvenstadien mancher Tiere können sich einige Zeit im Wasser treiben lassen, bevor sie sich an einem neuen Standort niederlassen, während andere sich nicht weit fortbewegen. Eine geringe Ausbreitungsfähigkeit ist in einer stabilen Umwelt kein Nachteil, was sich allerdings schnell ändern kann, wenn ein Ökosystem gestört wird. Irina erklärt warum: „Diese Traits verhindern eine schnelle Anpassung an Veränderungen, da sie Möglichkeiten einer Art einschränken, vor einem Störfaktor zu fliehen oder auch einen Standort nach einer Störung neu zu besiedeln.“ Doch genau das, nämlich eine Zunahme an Störungen, wird für diese Meeresregion prognostiziert.

Die globale Erhitzung treibt Meerestemperaturen kontinuierlich in die Höhe und verursacht den Rückgang von Meereis. Weitere menschgemachte Belastungen, wie die Tiefseefischerei, Öl- und Gasförderung und Tiefseebergbau, werden – synchron zu der zurückgehenden Meereisbedeckung – vermutlich zunehmen.

Und es gibt noch mehr Anlass zur Besorgnis: „Die Gemeinschaften der mittleren Tiefenzone von 486-1059 m zeigten eine geringere funktionelle Redundanz als die Gemeinschaften in der tieferen Zone. Das ist ein weiteres Anzeichen für eine höhere Sensibilität gegenüber Störungen in diesem Bereich“, betont Irina. Eine geringere funktionelle Redundanz weist darauf hin, dass schon das Verschwinden von wenigen Arten eine starke Auswirkung auf die Ökosystemfunktionen (darunter versteht man die Summe aller Prozesse und Stoffflüsse, die ein Ökosystem erhalten) haben würde. Und genau diese mittleren Tiefenzonen des Chukchi Borderland wären vermutlich ein leichteres Ziel für Fischerei und Bergbaugesellschaften.

Ausblick

Angesichts des Rückganges der arktischen Meereisbedeckung wird die Ausbeutung der Ressourcen der arktischen Tiefsee heute offen diskutiert. Umso wichtiger ist es, noch im Vorfeld ausreichendes Wissen über die arktischen Ökosysteme zu sammeln, da nur so die Risiken solcher Aktivitäten abgeschätzt werden können. Die Ergebnisse dieser Studie kommen rechtzeitig, um in laufende Ökosystem-Bestandsaufnahmen des arktischen Ozeans einzufließen. Zusätzlich werden die Trait-Informationen, die im Rahmen dieser Studie erfasst wurden und die in der Arctic Traits Database gespeichert sind, zukünftige Studien in diesem Forschungsfeld erleichtern.

Wenn Stahl auf Eis trifft – der Durchbruch der Healy durch eine Eisscholle im Zeitraffer (©GFOE, The Hidden Ocean 2016: Chukchi Borderlands).

Medieninformation

Verfasst von Renate Degen.
Redaktion und Layout vom APRI-Medienteam
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Fotos: Kopfzeile: Die Mitternachtssonne über dem Chukchi Borderland (© Irina Zhulay).

Über die WissenschaftlerInnen

Hauptautorin Irina Zhulay ist Doktorandin an der Arctic University in Tromsø (Norwegen), unter Betreuung von Prof. Bodil Bluhm (Seniorautor). Co-Autorin Renate Degen ist Mitglied der Arbeitsgruppe Polar Ecology am Österreichischen Polarforschungsinstituts APRI

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